Tatsächlich: Schon wieder ein Jubiläum! Vor 50 Jahren hatte Siegfried Spahl den Begriff „Ideenmanagement“ geprägt. Anders als 2022 das 150-jährige des Generalregulativs von Alfred Krupp, hat dieses Jubiläum bislang kaum Beachtung gefunden. Angesichts des „Siegeszugs“ dieses Begriffs mag das verwundern. Wie dem auch sei, 50 Jahre sind ein guter Anlass, sich einmal damit auseinanderzusetzen, was das schöne Wort „Ideenmanagement“ heute bedeutet, wofür es steht, und welche Schwierigkeiten die Selbstverständlichkeit mit sich bringen kann, mit der es meist verwendet wird.
Früher war die Welt wild und unübersichtlich: Es gab ein Durcheinander von Betrieblichem Vorschlagswesen, Wertanalysen, Qualitätszirkeln, Null-Fehler-Methoden, Patentwesen und manchem mehr. Heute ist alles viel einfacher und klarer: Es gibt das Ideenmanagement, und das kümmert sich um alles, was mit Problemlösungen und Verbesserungen zu tun hat. Wirklich???
Zumindest war es das Anliegen von Siegfried Spahl, ein einheitliches und geschlossenes System zu erarbeiten, „das sich der Nutzung aller Ideen- und Kreativitätsmethoden auf breiter Basis verschreibt und das alle Aktivitäten, die in einem Nahverhältnis oder in einer Wechselbeziehung zum Vorschlagswesen stehen, mit einschließt“ [Spahl 1975]. Organisatorisch solle es alle zuvor selbständigen Stellen zusammenfassen, „die Ideen erarbeiten, sammeln, bearbeiten, der Nutzung zuführen und entgelten“, und zwar gleichermaßen „Einzel- und Gruppen-Ideen, willkürlich entstandene und systematisch erarbeitete Ideen, schutzfähige und nicht schutzfähige Ideen“ [Spahl 1985]. Diese neue Einheit träte an die Stelle der vorher getrennten Zuordnungen des Vorschlagswesens zum Personalbereich, der Wertanalysen zum Technischen Bereich, des Patentwesens zur Forschung und Entwicklung oder der Qualitätszirkel zum Qualitätswesen (siehe Abbildung 1). Man darf davon ausgehen, dass Spahl auch erst später aufgekommene Konzepte und Methodenlehren wie z.B. KVP oder Six Sigma eingeschlossen hätte.
Abb. 1: Ideen-Management als geschlossene Einheit, mit der vorher getrennte Zuständigkeiten abgelöst werden sollen – bitte beachten Sie, dass sich die Angabe „derzeit“ auf das Jahr 1985 bezieht, in dem dieser Vorschlag von Spahl veröffentlicht wurde (Quelle: Spahl 1985)
Die Einführung eines neuen Begriffs war für Spahl kein Selbstzweck, sondern er suchte nach einem einfachen und allgemeinverständlichen Namen für diese neu zu schaffende Einheit. Indem man dann einfach nur noch vom Ideenmanagement spräche, würde man „die Menschen nicht mit den verschiedensten Methoden verwirren, wie z.B. Zero Defects, Mängelmeldungen, Vorschlagswesen, Gruppenvorschlagswesen, Quality Circle, Wertanalyse, Patent- und Lizenzwesen etc.“
Dieser Begriff hat tatsächlich einen bemerkenswerten Siegeszug erlebt, wie Peter Koblank in seinem pointierten Artikel „Der Siegeszug eines irreführenden Begriffs“ anmerkt. Die zunehmende Verbreitung spiegelt sich in vielerlei Hinsicht wider:
Dieser Erfolg mag darin begründet sein, dass Ideenmanagement moderner als Vorschlagswesen klingt, und sich „Ideenmanager“ nennen zu können vielleicht attraktiver ist, als „Beauftragter für das betriebliche Verbesserungsvorschlagswesen“ zu heißen. Ihr Vorschlagswesen in Ideenmanagement umzutaufen, mag für viele Unternehmen aber auch als symbolischer Ausdruck von grundlegenden Weiterentwicklungen der Prozesse und Strukturen sinnvoll gewesen sein, mit denen Vorschläge (oder Ideen) bearbeitet (oder gemanagt) werden. Der neue Name transportiert die Botschaft: „Hier kommt etwas Neues!“ Derartige Neuerungen betrafen etwa den Wandel von zentralen (und oft zu bürokratischen Unwesen verkommenen) Gremiumsmodellen zu schlankeren, dezentralen Modellen und das Aufgekommen von systematischer (meist top-down gesteuerter) Ideenfindung in KVP-Gruppen.
50 Jahre sind ein guter Anlass, Bilanz zu ziehen, die Vor- und Nachteile des Begriffs Ideenmanagement abzuwägen und sich zu fragen, was aus der ursprünglichen Vision von Spahl heute geworden ist. Außer beim bereits oben genannten Artikel von Koblank nehme ich dafür auch Anleihen bei seinen Veröffentlichungen „Kleine Geschichte des Ideenmanagements“ und „Was ist KVP?“. Der Einfachheit halber betrachte ich im Folgenden nur Ideen, die vielleicht etwas verbessern könnten – es ist klar, dass diese nur ein Teilmenge aller Ideen sind, die Menschen im Kontext ihrer Arbeit haben.
Idee oder Vorschlag: Jeder Verbesserungsvorschlag beruht auf einer Idee, aber nicht jede Idee führt zu einem Verbesserungsvorschlag. Daher besteht zunächst Klärungsbedarf, …
Ideen im ersten Sinne kann man viele haben, nur ein Teil davon hat das Zeug für einen Vorschlag im zweiten Sinne. Hier müssen Unternehmen kommunizieren, was sie wollen. Das kann durchaus vom Reifegrad eines Ideenmanagements abhängen: Zu Beginn setzt man die Hürden vielleicht niedrig an und fordert dazu auf, alle denkbaren Ideen erst einmal einzureichen und die Überlegung, ob sie wirklich umgesetzt werden sollten, anderen zu überlassen. In einer späteren Phase könnte man erwarten, dass nur solche Ideen vorgeschlagen werden, für deren Umsetzung sich der Ideengeber entscheiden würde, wenn er dafür die Verantwortung trüge.
Nun kann man einwenden, dass der genannte Klärungsbedarf auch bei einem Vorschlagswesen besteht. Das stimmt: Auch hier muss unternehmensseitig geklärt werden, welchen Ansprüchen die Vorschläge genügen sollen. Meiner Ansicht nach sind jedoch im allgemeinen Sprachgebrauch und -verständnis Grenzziehungen für Vorschläge einfacher und eingängiger als für Ideen. Dass der weitere Bedeutungshorizont des Wortes Idee die Erfordernis erhöht, entsprechende klärende Aussagen bei der Definition der Strategie für das Ideenmanagement eines Unternehmens zu treffen, lässt sich als (zumindest latent) nachteilig bewerten.
Dagegen kann man es (neben der höheren sprachlichen Attraktivität) als Vorteil ansehen, dass Ideenmanagement den begrifflichen Fokus auf die Ideen richtet und damit auf die Voraussetzung, dass überhaupt Vorschläge gemacht werden können. Es geht eben nicht nur darum, Mitarbeiter zu motivieren, ihre vorhandenen Ideen als Vorschläge einzureichen und diese Vorschläge dann zu managen, sondern den gesamten Prozess vom Ursprung der Idee an zu bewirtschaften. Sich im Sinne von Neuroideenmanagement zu fragen, wie Ideen überhaupt entstehen und wie die Ideenentstehung (etwa durch Inspiration) gefördert werden kann, wird meiner Ansicht nach durch den Begriff Ideenmanagement mehr nahegelegt als durch Begriffe wie Vorschlagswesen oder Vorschlagsmanagement.
Greift man noch das Wort Verbesserung auf, wie es im Verbesserungsvorschlag(swesen) vorkommt, dann ergibt sich eine logische Kette, in der das Nächste auf dem jeweils Vorherigen beruht (siehe Abbildung 2).
Abb. 2: Logischer Zusammenhang zwischen Idee – Vorschlag – Verbesserung
Nicht jede Idee wird vorgeschlagen, nicht jeder Vorschlag führt zu einer Verbesserung. Umgekehrt kommt es zu keiner Verbesserung, wenn niemand den Impuls dafür gibt, und einen Vorschlag kann nur machen, wer eine Idee hat … Ob man von einem Ideen-, einem Vorschlags- oder einem Verbesserungsmanagement spricht, kann ausdrücken, von welcher Seite her dieser Prozess betrachtet und verstanden wird.
Verbesserung oder Innovation: Der Vision von Spahl gemäß deckt das Ideenmanagement alles ab: von der Mängelmeldung bis zur Erfindungsmeldung. Interessanterweise würde dieses System mit Mängelmeldungen auch Mitteilungen erfassen, die gar keine Idee benötigen, denn der bloße Hinweis „da ist ein Fehler / Defekt“ setzt keine Idee voraus, wie der Fehler / Defekt beseitigt werden kann – geschweige denn, wie eine Wiederholung vermieden werden kann (der Einfachheit halber benutze ich auch dafür im Folgenden dennoch den Begriff Idee). Nun gibt es zwar eine Reihe von Unternehmen, die eine gemeinsame „Landungsplattform“ („1-door-approach“) anstreben, um Mitarbeitern nicht erst vermitteln zu müssen, welcher Kanal für welche Art von Beiträgen zu nutzen ist. Doch im weiteren Managementprozess muss mindestens unterschieden werden, ob es sich um eine Idee handelt, die auf interne Praktiken zielt (hier spreche ich vereinfachend und zusammenfassend von Verbesserungsideen), oder ob es darum geht, die Idee an den Markt zu bringen (hier spreche ich vereinfachend und zusammenfassend von Innovationsideen).
Ist Ideenmanagement nun für das komplette Management sowohl von Verbesserungsideen als auch von Innovationsideen zuständig? Wenn ja, dann wäre das Innovationsmanagement organisatorisch ein Teil des Ideenmanagements. Das ist allerdings im Sprachgebrauch und im Verständnis der wenigsten Unternehmen der Fall. Statt dessen wird Ideenmanagement in den meisten Unternehmen entweder …
… verwendet, während das Innovationsmanagement auf einem völlig anderen Blatt steht und auch organisatorisch meist ganz woanders verortet ist (lesen Sie mehr dazu im Blogbeitrag „KVP, Ideen- und Innovationsmanagement – same, same, but different?“).
Der Begriff Ideenmanagement birgt gleichwohl das Risiko, dass die grundlegenden Unterschiede zwischen dem Management von Verbesserungsideen und dem von Innovationsideen verwischt werden: beides sind ja Ideen. So kommt es immer wieder zu Szenen wie etwa der Folgenden: Man spricht mich an, weil das Unternehmen „ein Ideenmanagement“ einführen oder wiederbeleben möchte. Ich frage, was denn damit erreicht werden soll, und höre, dass man disruptive Ideen für neue Geschäftsfelder oder -modelle erhalten möchte. Nun steht es natürlich jedem Unternehmen frei, sein System für solche disruptive Ideen zu nennen, wie es will. Auch kann es nützlich sein, sich Anregungen aus dem „verbesserungsorientierten“ oder „Vorschlagswesen-Ideenmanagement“ zu holen, wie man ein „innovationsorientiertes Ideenmanagement“ gestalten kann, um die Belegschaft in der Breite in die Gewinnung von disruptiven Ideen einzubeziehen.
In der Praxis gilt jedoch für die weit überwiegende Mehrheit der Unternehmen:
Idee ist eben nicht gleich Idee – es lebe der Unterschied: zwischen Verbesserungsideen und Innovationsideen, zwischen Ideenmanagement (inkl. KVP) und Innovationsmanagement (inkl. New Business Development)! Praxisbeispiele, wie Unternehmen Innovationsideen aus dem Ideenmanagementprozess herausnehmen oder ein vom Ideenmanagement völlig getrenntes System etwa für Geschäftsmodellideen anbieten, finden Sie in folgenden Blogbeiträgen:
Das Ganze oder ein Teil: Die Ausführungen zu den Unterschieden zwischen Ideen- und Innovationsmanagement haben bereits deutlich gemacht, dass die ursprüngliche Absicht von Spahl, mit dem Ideenmanagement eine übergeordnete Einheit zu schaffen, die auch die Zuständigkeit für das Management von Innovationsideen hat, höchstens in einer äußerst kleinen Anzahl von Unternehmen realisiert ist. Wie erwähnt, beschränkt sich die Zuständigkeit des Ideenmanagements in den weitaus meisten Unternehmen auf das, was früher Vorschlagswesen hieß, oder auf die Kombination von KVP und BVW.
Auch der Ansatz von Spahl, das Ideenmanagement als Stabsstelle bei der Unternehmensleitung aufzuhängen, ist nur in einer Minderzahl von Unternehmen realisiert. Im „Kennzahlenvergleich Ideenmanagement 2021“ hatten nur etwas mehr als 6% der Teilnehmer diese Art der organisatorischen Zuordnung angegeben (siehe Abbildung 3).
Abb. 3: Organisatorische Zuordnungen des Ideenmanagements im Jahr 2021
Dramatisch überspitzt könnte man formulieren: Der Begriff Ideenmanagement wurde für etwas (großes) Ganzes erdacht, tatsächlich genutzt wird er nur für einen unverändert kleinen Teil (wenn ein bestenfalls optimiertes Vorschlagwesen in Ideenmanagement umgetauft wurde) oder für einen gegenüber früher nur in Maßen vergrößerten Bereich (wenn Ideenmanagement als Oberbegriff für ein um KVP ergänztes Vorschlagswesen verwendet wird).
Mit Ideenmanagement ist Siegfried Spahl eine Wortschöpfung gelungen, die sich als sehr attraktiv erwiesen hat und in großem Umfang aufgegriffen wurde. Allerdings wird dieser Begriff weit überwiegend für etwas anderes verwendet, als er es ursprünglich beabsichtigt hatte. Anstatt für eine übergeordnete Einheit zu stehen, ist das Ideenmanagement in den meisten Unternehmen Teil einer Abteilung für Lean, KVP, Optimierung oder Operational Excellence oder es ist dem Personalwesen zugeordnet.
Der begriffliche Übergang von einem „Betrieblichen Verbesserungsvorschlagswesen“ zum „Ideenmanagement“ ermöglichte wesentliche Erweiterungen des Blickwinkels: Ebenso, wie mit Ideen der Ursprung von Vorschlägen und Verbesserungen mehr betont wurde, förderte Ideenmanagement auch das Verständnis, dass es nicht nur um Ideen (und Vorschläge und Verbesserungen) im und für den Betrieb geht, sondern gleichermaßen in und für kaufmännische und Verwaltungsbereiche.
Die eigentliche „Irreführung“ wird nicht durch den Begriff Ideenmanagement verursacht, sondern …
… dass die Suggestion entsteht, beide seien nahezu synonym. Kombinationen wie Ideen- und Exzellenzmanagement oder Ideen- und Qualitätsmanagement wären demgegenüber sehr viel sinnstiftender und praxisgerechter.
Um die gegenwärtigen und in der nächsten Zukunft absehbaren Herausforderungen zu bewältigen, werden Ideen aller Art benötigt! Sorgen Sie innerhalb ihres eigenen Unternehmens für begriffliche Klarheit, um den Beitrag, den Ihr Ideenmanagement oder Vorschlagswesen dafür leistet, zu verdeutlichen!
Literaturhinweise:
Lesen Sie auch folgende Blogbeiträge:
Ein nach Stichworten sortiertes Verzeichnis mit Links auf alle bisher erschienenen Beiträge im Blog zum Ideenmanagement finden Sie in diesem Register.
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